Rezension: Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr von Jojo Moyes ist der literarische Hype der Stunde. Bei Amazon z.B. sahnt das Buch massenhaft Topbewertungen ab. Können so viele Meinungen irren? Kaum, es gibt in der Hinsicht ja kein Richtig oder Falsch. Aber glücklicherweise können Meinungen sehr unterschiedlich sein.

Der Plot ist schnell erzählt: Eine leicht unkonventionelle junge Frau aus der unteren Mittelschicht trifft einen reichen Mann in bestem Alter, der nach einem Unfall schwerstbehindert im Rollstuhl sitzt. Den Job, auf ihn aufzupassen und für ihn zu sorgen, nimmt sie nur widerwillig an; er gibt sich zu Anfang alle Mühe, sie zu vergraulen. Wer jetzt behauptet, wie mutig es ist, mit so einer Situation zu arbeiten, hat den Riesenlärm um Ziemlich beste Freunde wohl nicht mitbekommen. Zu Beginn erinnert hier schon vieles an den französischen Überraschungserfolg.

Es gibt aber grundlegende Unterschiede. Man kann es sich fast denken (ansonsten hilft ein Blick auf die Rückseite des Buches) – die Begegnung der Protagonisten Louisa und Will geht über Freundschaft hinaus und wird zur Liebesgeschichte. Diese wird sehr behutsam aufgebaut – leider auch vorhersehbar. Die Haken, die geschlagen werden, überraschen kaum, man ist beim Lesen immer schon gefühlte 100 Seiten weiter als die Geschichte einen haben will.

Moyes tritt dabei leider wiederholt in die Klischeefalle. Das arme, einfache, tolpatschige Mädchen Mitte Zwanzig, das sich in den reich geborenen, erfolgreichen, intelligenten, eloquenten, hochattraktiven und beinah absurd aktiven Mittdreißiger verliebt. Aber! Dieser ist zunächst ein arroganter Schnösel. Doch was die Liebe (zu) einer Frau so bewirken kann… Gut, ein bisschen komplizierter sind die Wies und Warums dann schon.

Klischeehaft erscheinen aber auch manche Nebenfiguren, allen voran die schlichte Mutter von Louisa. Erfreulich ist, wenn solche eindimensionalen Schilderungen aufgebrochen werden. Ein Kapitel aus der Sicht von Wills Mutter verleiht dieser Figur die dringend notwendige Tiefe. So erschließt sich, dass die Figuren vielleicht nur aus Louisas Sicht, die den Roman ansonsten dominiert, einseitig sind. Der schale Beigeschmack bei manchen Personen bleibt dennoch. Der gelegentliche Perspektivwechsel irritiert zudem. Lous Perspektive nutzt Moyes hingegen, um nicht alles aussprechen zu müssen beziehungsweise manches diffus lassen zu können, da Lou die Situation nicht immer durchschaut.

Groschenromankitsch, der sich etwa in Formulierungen wie „Ich hätte ihm für alle Ewigkeit in die Augen schauen können“ oder in sich wiederholenden Formulierungen äußert, erzeugt Distanz zum sensiblen Thema. Man kann sich teils kaum des Eindrucks erwehren, dass eine massenkompatible Verfilmung beim Schreiben im Hinterkopf war. Die obligatorische dramatische Flughafenszene wird gleich mitgeliefert.

Bemerkenswert ist, wie einfühlsam Moyes mit dem rückenmarksverletzten Will umgeht. Die Situation eines Tetraplegikers wird in vielen Facetten geschildert, auch die Reaktionen der Gesellschaft auf ihn. Und zum schwierigen Thema Sterbehilfe bezieht Moyes erst Stellung, nachdem verschiedene Stimmen zu Wort kamen und die entscheidenden Faktoren recht genau beleuchtet wurden. Dass dieser Prozess hochemotional gestaltet ist, kann kein Kritikpunkt sein.

Neben diesem ist es die Entwicklung der kauzigen Lou, die den Roman trägt. Ihre Entscheidungen trifft man mit, lässt sich von ihnen motivieren und hofft dabei das Beste für die mutige junge Frau. Allerdings, und das braucht nicht weiter ins Gewicht zu fallen, meine ich bei ihr einen Charaktertyp auszumachen, der von Hollywood in letzter Zeit gerne genutzt wird, um jungen Frauen eine Identifikationsfigur zu bieten. Lou ist unangepasst (lustige Klamotten!), sie hat keine Modelfigur, ist aber (natürlich) dennoch attraktiv, sie sagt ihre Meinung, ist lieb, ehrlich und warmherzig, aber auch witzigfrech, eigensinnig und kreativ. Unsicher, aber tapfer, wenn es darauf ankommt. Sie beherrscht keine Etikette und stolpert auf liebenswert ungeschickte Art wiederholt in Fettnäpfchen: Eine leichte Chaotin mit dem Herz am richtigen Fleck. Erinnert an Bridget Jones, New Girl und andere, aber das mag nur mein Eindruck sein. Einen echten charakterlichen Mangel hat Moyes ihr nicht verpasst, zumal die anfängliche Lethargie dramatisch begründet wird.

Problematischer ist die zunächst ungebrochene Gestaltung einer konservativen Mädchenphantasie, die der einfachen, unschuldigen jungen Frau den erfolgreichen Mann als über ihr stehend gegenübersetzt, welcher aber doch auf die Hilfe genau dieser heimlichen Prinzessin angewiesen ist und nur von ihr zum Guten verändert werden kann. Bemüht vielschichtiger wird es durch die Offenbarung, dass beides verletzte Seelen sind, die einander heilen wollen. Hier ergeben sich dennoch differenziertere Fragestellungen. Wer rettet wen, und wenn, in welcher Hinsicht?

Das alles kann man nachlesen, muss es aber sicher nicht. Moyes verarbeitet die Themen Leben oder Sterben mit schwerster Behinderung, Aufbruch, Loslassen und vor allem Lieben leicht lesbar, durch Vorhersehbarkeit wenig spannend und teils symphatisch zu einer leider vom Kitsch getrübten, aber ambitionierten Geschichte, deren Gewinn nicht zuletzt von der Erwartungshaltung abhängt.